Fast hätten wir damals wieder kehrtgemacht. Als Karin und ich auf der Suche nach einem Abendessen im Sommer 2022 die Türe der kleinen Izakaya Mondo in der Postgasse von Hiyoshi öffnen, trifft uns unmittelbar der unsichere Blick des Gastwirts. Er steht hinter dem Tresen, vor ihm einige Gäste, aber auch ein paar leere Stühle.
Von den besetzten Plätzen blickt man uns ebenfalls an, als hätten wir uns verlaufen. Karins Beteuerung, dass wir Japanisch verstehen, sorgt zunächst nur für geringfügige Entspannung. Aber immerhin bietet man uns zwei Plätze an.
Izakayas (iru = bleiben, sake = Alkohol, ya = Geschäft) haben sich über die Zeit von reinen Verkaufsstellen zu lässigen Bars gewandelt, in denen auch kleinere Gerichte serviert werden.
Man muss dazusagen, dass die Sorgen nicht ganz unberechtigt sind. In vielen Situationen kann und muss man sich in Japan ohne Sprachkenntnisse durchfummeln: im Supermarkt, am Bahnhof, in der Ausländerbehörde. Aber in der Izakaya braucht dieses Gewurschtel schon eine beiderseitige Leidensfähigkeit – bei Gast und Wirt. Englischkenntnisse darf man hier nicht erwarten. Dazu kommt, dass sich an den handgekritzelten Speisekarten auch die modernsten Übersetzungs-Apps immer noch die Zähne ausbeißen.
Aber jetzt, da wir sitzen und japanisch reden, schmilzt das Eis. Die Zurückhaltung ist dem landestypischen Lächeln gewichen. Wenn er es auf japanisch tun darf, erklärt der Wirt auch gerne geduldig diejenigen Speisen auf der Karte, die wir nicht auf Anhieb verstehen. Und das, obwohl er eigentlich schon genug Arbeit hat. Denn er ist der Einzige, der hier arbeitet: Getränke empfehlen und einschenken, sämtliche Gerichte zubereiten, servieren, spülen, nachschenken, kassieren und bei Bedarf auch ein Taxi rufen. Es ist unglaublich, wie der Einzelkämpfer das alles bewerkstelligt.
Dass er sich angesichts dieser Arbeitsbelastung noch dafür entschuldigt, dass er nicht alle Speisen sofort servieren wird, würde man ihm in Deutschland schon als Zynismus auslegen. Hier ist es eine ernstgemeinte Selbstverständlichkeit.
Die Köstlichkeiten, die er in der Folge serviert, haben allerdings auch alle einen „exklusiven Auftritt“ verdient. Darunter sind die Izakaya-Klassiker wie Edamame, Dashimaki-Tamago, Karage und gemischtes Sashimi. Der Ceasar’s Salad und die Frühlingsrollen mit Krebs, Avocado und Käse sind im Mondo ebenfalls hoch um Kurs. Dazu kommen wechselnde Spezialitäten wie Wal-Bacon, Mais-Tempura, Gorgonzola-Höhnchen oder Ratatouille. Bei einer derart vielfältigen Speisekarte in einem so kleinen Lokal bin ich eher beruhigt denn verärgert, dass nicht immer alles verfügbar ist.
In vielen Izakayas gibt es einzelnen Tische oder gar Separees, die perfekt für den kleinen oder größeren Feierabend-Umtrunk mit den Kollegen sind. Das Mondo ist aber so klein, dass alle Gäste am Tresen Platz nehmen. Ganze neun Stühle. Hier gibt es keine Privatsphäre. Man unterhält sich. Und als Ausländer bieten wir natürlich auch jede Menge Gesprächsthemen.
Uns stellen sich der Arzt von Hiyoshi und seine Gattin vor. Der Feuerwehrmann. Die ältere Dame. Und beim nächsten Besuch, viele Wochen später, trifft man sie wieder, denkt man, verdrängt den Gedanken zunächst, grübelt dann, und erkennt am Lachen der anderen Gäste, dass man sich an diesem Ort tatsächlich schon einmal begegnet ist. Das ist so herrlich kleinstädtisch, dass man es hier, wo in jede Richtung 50 km weit Häuser stehen, nicht für möglich gehalten hätte.
Den schweigsamen Musikliebhaber habe ich dagegen sofort wieder erkannt. Regelmäßig sitzt er beim Mondo, und wippt mit dem Kopf leicht zur Musik und schaut glücklich. Überhaupt die Musik. In Japan wird man fast überall bedudelt: Unverbindlicher, aber dennoch geschmackvoller Jazz im MyBasket-Supermarkt, miese lizenzfreie MIDI-Instrumentals von Welthits im Konbini und hektisch-überladener J-Pop überall sonst.
Aber nicht mit dem Einzelkämpfer. Sein Laden, seine Musik. Eigentlich immer mit Gitarre und fast ausschließlich aus den 1990ern: Mit Elton John, R.E.M., Air und Oasis bringt man vermutlich niemand gegen sich auf. Aber die Reise geht dann munter weiter über The Verve, Radiohead, The Cure, Massive Attack und die Cranberries. Wer beim Einzelkämpfer speisen möchte, muss den Abend nicht zuletzt mit Portishead, Skunk Anansie und den Cardigans verbringen. In Shibuya wäre das vermutlich die wohl kalkulierte Geste eines Restaurants, das in bester Lage zwanghaft als „Indie“ gelten will. Im beschaulichen Hiyoshi ist das tatsächlich mutig. Dass sich ab und zu auch mal Boney M in die Playlist verirrt, auch.
Izakaya Mondo
1 Chome−3−7 山総ビル, Hiyoshihoncho,
Kohoku Ward, Yokohama, 〒223-0062 Kanagawa