Am 15. August 1945 wurde der japanische Kaiser Hirohito zum Mensch. Der Tenno, “himmlische Herrscher”, hielt an diesem Tag seine erste Radioansprache überhaupt in der Geschichte des Kaiserreichs. Wenige Tage nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki erklärte er darin die bedingungslose Kapitulation.
Das Land war am Boden. Jedoch legte es in der Folgezeit einen fabelhaften Aufstieg hin, der im Gegensatz zu Deutschland auch nicht durch die Teilung durch Besatzungsmächte gebremst wurde. Jahrelang war Japan die zweitgrößte Wirtschaftsnation hinter den USA und seine Produkte von Sony, Nikon und Co. in vielen Branchen führend.
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat Japan diesen Schwung scheinbar verloren. Vor einigen Wochen waren Kollegen aus Deutschland zu Besuch, die Japan schon Ende der 1980er besucht haben. Mit Erstaunen stellten sie fest, dass sich ja “gar nichts verändert” habe. Dieses Zeugnis ist sicherlich übertrieben. Aber bei genauer Betrachtung ist vieles im Land tatsächlich Jahrzehnte alt.
Die Nahverkehrszüge, die täglich Millionen reibungslos transportieren, haben sich seit den 1960ern kaum verändert. Natürlich wurden mehrere Generationen von Anzeigen, Klimaanlagen und WLAN-Router eingebaut. Die Bahnhöfe wurden Station um Station mit Sicherheitstoren Richtung Gleis versehen. Aber das alles sind eher Evo- statt Revolutionen.
Die jährlichen Präsentationen der neuesten Sony-Roboter auf der ifa, über die auch die Tagesschau zuverlässig berichtet, überschatten einen entscheidenden Punkt: Wichtiger noch als der neueste Schick ist den Japanern, dass die Dinge funktionieren. Also wird das Bestandsmaterial gewartet, anstatt ständig Neues zu beschaffen, das über kurz oder lang den Dienst quittiert.
Rolltreppen in öffentlichen Gebäuden werden beispielsweise häufig als Dreierset gebaut. So kann man eine davon ohne Einbußen für die Kunden warten. Als Ergebnis funktionieren eigentlich immer alle drei.
Die Fahrzeugmodelle, die mein Arbeitgeber hier im Land anbietet, werden unter anderem auf ihre Kompatibilität mit dem Walkman überprüft. Walkman? Richtig gelesen. Gerade die älteren und wohlhabenden Kunden ziehen Musik vom physikalischen Speicher häufig dem modernen Streaming vor. Also müssen unsere hochgerüsteten Touchscreen-Landschaften auch damit zurecht kommen.
Der Hang zum Bewährten zeigt sich auch in den vielen „Book Off“ Geschäften. Diese Second-Hand-Läden sind quasi eBay Kleinanzeigen zum Durchlaufen (das erspart den Japanern, Geschäfte mit Fremden abzuwickeln). Alles ist dort penibel gepflegt. Eine CASIO G-Shock, eine Stereoanlage aus den 1980ern oder das Champions League Trikot des BVB von 1997? Das alles bekommt man hier im Neuzustand.
Ein Streifzug durch den “Super Bazaar” in unserer Nachbarschaft weckt auf diese Weise zuverlässig Erinnerungen an den “Grundig Monolith”. Unser treuer Röhrenfernseher, der seinem Namen im Bezug auf Gewicht, Unverwüstbarkeit, aber auch Modernität absolut gerecht wurde. Haushaltsgeräte sind in Japan deutlich teurer als bei uns. Der Markt ist fest in der Hand japanischer Marken, deren Produkte aber offenbar immer noch sehr langlebig sind.
Es scheint insgesamt so, als habe Japan an vielen Stellen beschlossen, dass „es reicht“. Und wenn man den Lebensstandard im Land nüchtern betrachtet, ist das keine allzu abwegige Entscheidung. Sie entsetzt sicherlich die Fürsprecher eines “ewigen” und möglichst schnellen Wirtschaftswachstums. Für die Mahner, die heute lauter denn je auf die endlichen Ressourcen eines nun einmal begrenzten Planeten hinweisen, taugt Japan aber damit manchmal schon als “role model”.
Leider gibt es diese langsame Entwicklung nahe am Stillstand auch in weiteren Lebensbereichen. Das gilt für die Rolle der Frauen genauso wie für den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren. Und es treibt mitunter skurrile Blüten: In tausenden Behördenprozessen sind noch CDs, Mini-Discs und sogar Floppies vorgeschrieben. Immerhin damit möchte der neue Digitalminister der Regierung nun aufräumen. Im Book Off finden sich sicherlich schnell Kunden für die exzellent erhaltenen Diskettenlaufwerke.