Der Versuchsingenieur* für Automobile sieht sich oft dem Vorwurf der “Geschäftsurlauberei” ausgesetzt. Zu Unrecht, ist doch das Gegenteil richtig: Seine Zunft muss stets dahin, wo es weh tut – für Mensch und Maschine. Die Gluthitze der andalusischen Wüste zählt ebenso dazu wie die klirrende Kälte jenseits des Polarkreises.
Im Fall Japans kann und muss er dafür nicht ganz so weit in den Norden ziehen. Denn die Winter auf der zweitgrößten und nördlichsten japanischen Insel Hokkaido sind – nur einen Steinwurf von Wladiwostok entfernt –– kalt und schneereich.
Bei der Ankunft in der Hafenstadt Tomakomai erzählt er beim Mittagessen der Wirtin von seinen Plänen, bis zum Kap Soya zu fahren. Sie schaut erst ungläubig und beteuert dann, wie froh sie (die zu dem Zeitpunkt einen halben Meter Schnee vor dem Lokal liegen hat) über die milden Winter auf der Südseite der Insel sei.
Schneemassen und Eiskälte
Kaum verlässt der Fahrzeugkonvoi die flache Küstenregion, wird es auch sogleich ungemütlicher. Die Temperatur steigt nur noch selten über -10 ºC. Und gefühlt ist mittlerweile jedes zweite Fahrzeug, das den Ingenieuren begegnet, ein Schneepflug. Oder ein lebensmüder Trucker, der unter allen Umständen seinen 20 km/h-Zuschlag zum Tempolimit beibehalten muss.
Was die Dosanko, wie sich die Einheimischen selbst nennen, im Sommer treiben, ist dem Autor nicht bekannt. Im Winter vertreiben sie sich jedoch die Zeit damit, Schnee von A nach B zu räumen. Oder wieder zurück. Man sieht tatsächlich nur wenige Menschen, die nicht gerade eine Schaufel oder Schneefräse in der Hand haben. Und wenn, dann liegt es daran, dass sie gerade einen Bagger fahren – der widerum eine Schaufel voller Schnee trägt. Denn in Hokkaido haben die Abfallunternehmen eine wichtige Zusatzaufgabe: Einmal in der Woche kommt die Schneeabfuhr. Und weil die weiße Pracht von den Anwohnern nicht in praktischen Abfalltonnen bereitgestellt wird, ziehen dann gleich mehrere Bagger, Lkw und Schneefräsen durch die Straßen.
In der Regionalhauptstadt Sapporo haben die 2 Millionen Einwohner aus der Not eine Tugend gemacht: Statt den Schnee zu räumen, laden sie seit 1950 jährlich zum Yuki-Matsuri, dem Schnee-Festival. Diverse Skulpturen und Installationen aus Schnee und Eis locken hunderttausende Gäste auf die Insel. Statt der Straßen sind nur die Zimmerpreise der Hotels gesalzen. Aus dem Grund wird eine Fahrzeugerprobung natürlich an den Feierlichkeiten vorbeigeplant. Für schöne Bilder davon muss die Leserschaft daher auf die Instagram-Seite der Stadt abbiegen – es lohnt sich.
Seicomart – der coolste Konbini Japans
Auch kulinarisch hat Hokkaido einiges zu bieten: Die Sapporo-Brauerei gehört zurecht zu den größten im Land. In den “Dschingis Khan” Restaurant kann man sich auf einem kohlenbefeuerten “Mongolenhelm” Lamm und andere Köstlichkeiten braten. Und die Kartoffeln, die in Japan nur auf Hokkaido in größerem Umfang angebaut werden, werden im Seicomart frittiert und feilgeboten.
Letzteres ist eine Konbini-Kette, deren Filialen es bis auf ein paar versprengte Ausnahmen nur auf Hokkaido gibt. An ihren “Hot-Chef”-Theken versorgen sie selbst das kleinste Nest – und die dort aufschlagenden Versuchsingenieure – mit warmen Speisen und günstigem Kaffee. Aber natürlich ist das kulinarische Highlight der Insel der Fisch. Denn wo könnte er frischer sein als dort, wo er noch an der Angel zappelnd schon schockgefrostet wird?
Der Norden der Nordmeer-Insel
Und das japanische Nordkapp? Stimmt, da war ja was. Nach etlichen Stunden auf einsamen, schneebedeckten Landstraßen erreicht der Versuchstross irgendwann auch den nördlichsten Punkt des Kaiserreichs. Eine Skulptur, eine Samurai-Statue, das war’s. Im stürmigen Schneetreiben ist vom wenige Kilometer entfernten Russland nichts zu sehen.
Spannender ist da schon der Verkehr in der nahegelegenen Stadt Wakkanai. Gegen die peitschende Gischt bei beständig strengem Frost hat der Winterdienst offenbar schon vor Längerem kapituliert – und die Straßen zu blanken Eisbahnen verkommen lassen. Über diese flitzen einige Kei Cars erstaunlich dynamisch. Nur wer sich davon nicht zu einer schnelleren Fahrweise verleiten lässt, hat eine Chance auf ein Wiedersehen an der nächsten roten Ampel – wo er dann die Spikereifen der japanischen Kompaktwagen bestaunen kann.
Wohlbehalten im Hotel angekommen kann der Versuchsingenieur abends die halb erfrorenen Gliedmaßen im Onsen auf der Dachterrasse wiederbeleben – während in ihm die Erkenntnis reift, dass die Opfer, die er im Rahmen seiner Tätigkeit erbringt, nicht immer völlig unmenschlicher Natur sind.
*) Der besseren Lesbarkeit geschuldet verwendet der Artikel das generische Maskulinum. Leider ist es in der Automobilindustrie noch oft eine zutreffende Beschreibung der Verhältnisse.